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Aus einem Artikel von 1999

Dieser Textabschnitt wurde 1999 geschrieben erschien im Jahr 2000.

Quelle: Thissen, Frank (2000): Elektronische Publizieren oder elektronisches Kommuni­zieren. Hochschul­didaktik und Bibliotheken im 21. Jahrhundert. In: Beate Tröger (Hg.): Wissenschaft online. Elektronisches Publizieren in Hochschule und Bibliothek. Zeit­schrift für Bibliothekswesen und Biographie. Sonderheft 80. Frankfurt/M.: Klostermann, S. 89–99

(Die Markierungen in Fettschrift wurden nachträglich hinzugefügt.)

 

»Kooperatives Lernen und Bibliotheken – wie passt dies zusammen? Gar nicht, wenn Universitätsbibliotheken Bücher „verwalten“, die an einzelne für eine begrenzte Zeit verliehen werden, wenn überall Schilder „Bitte Ruhe“ hängen und man sich in „Einzelzellen“ zum Studium zurückziehen kann.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das konzentrierte Lesen eines Buches, das Erarbeiten eines Referates oder einer Diplomarbeit in nächtelanger Auseinandersetzung mit dem Material und das Ringen um Erkenntnis wird auch in Zukunft zu jedem Studium gehören. Diese sehr rezeptive Phase des wissenschaftlichen Arbeitens muss aber ergänzt werden durch eine aktive Phase, die aus dem gemeinsamen Weiterentwickeln der individuellen Erkenntnisse besteht, aus dem gemeinsamen Reflektieren und dem Vernetzen des Erlernten.

Jedes wissenschaftliche Werk steht in einer wissenschaftlichen Tradition und wird von einer Unzahl von Lesern interpretiert , d.h. weiterverarbeitet und auch weiter „geschrieben“. Denn jeder Leser schreibt im Prozess des Lesens in gewisser Weise den Text neu.  Er sollte sich dieses Neuinterpretieren durch Visualisierung bewusst machen können und andere daran Teilhaben lassen, die wiederum ihr Verständnis des Textes den anderen zeigen usw. usw. Dies sollte auch sichtbar werden.

Das Trauma vieler Bibliothekare, in das Buch geschriebene Anmerkungen, gelbe Klebezettel, Unterstreichungen im Text oder gar der Einsatz von Textmarkern sollte zukünftig nicht nur erlaubt sein, sondern sogar erwünscht. So kann und muss jeder Leser seine individuellen Spuren hinterlassen. Der Nachfolger kann dann z.B. anhand der Fragezeichen am Rand erkennen, dass nicht nur er Probleme mit dem Verständnis dieser Textstelle hat, sondern es auch anderen so ging. Er kann wertvolle Hinweise erhalten über andere Texte, auf die sich der Autor des Buches bezieht und den sich um den Text herum entwickelnden Diskussionsstand verstehen.

Dass dies nicht in der Originalausgabe der „Phänomenologie des Geistes“ oder in irgendeinem anderen aufwendig gedruckten Werk möglich ist, ist offensichtlich. Aber vielleicht ist es auch ein Anachronismus, das Bibliotheken unter massivem Platzmangel leiden, die wichtigen Bücher gerade dann, wenn man sie dringend braucht, von anderen ausgeliehen sind und nicht zur Verfügung stehen und Millionen DM für die Konservierung von durch Säure zerfallende Bücher ausgegeben werden.

Die Bibliothek der Zukunft besteht vielleicht gar nicht mehr aus gedruckten Werken, sondern aus einer gewaltigen Datenbank, die Texte jeder Art enthält. Ein Benutzer kommt mit seinem Electronic Book in die Bibliothek, das er an einer Ladestation auflädt, d.h. er wählt sich die Texte aus, die er benötigt, mit den Kommentaren und Anmerkungen von anderen, die er dann während des Lesens nach Wunsch selektiv beliebig ein- oder ausblenden kann. Sein E-Book ist kein Laptop, sondern sieht wie ein konventionelles Buch aus und fühlt sich auch so an. Der einzige Unterschied zum herkömmlichen Buch ist der, dass die Schrift nicht durch Farbe erzeugt wird, sondern durch Spannungen, die zur Schwärzung der entsprechenden Stellen auf dem Spezialpapier führen.  Der Benutzer lädt sich außerdem die Texte, auf die im Buch verwiesen wird. Beim Lesen schreibt er seine Anmerkungen in das Buch hinein, ergänzt, erweitert, markiert, visualisiert. Diese Anmerkungen werden dann beim nächsten Besuch an der Ladestation in die Datenbank zurückgespeist und stehen danach den nächsten Lesern zur Verfügung. Selbstverständlich steht die Ladestation nicht notwendigerweise in der Bibliothek, sondern auch auf dem Schreibtisch des Studenten, der über das Internet sein E-Book aufladen kann.

Und dies verdeutlicht ein weiteres Merkmal der wissenschaftlichen Bibliothek der Zukunft: nicht nur die Texte (und Bilder) werden virtualisiert, sondern auch der Zugriff auf diese Texte ist nicht mehr an bestimmte Orte gebunden. Die Bibliothek ist überall und – wie die Texte – mit anderen vernetzt. Die Grenzen zwischen Hörsaal, Seminarraum, Studentenbude und Bibliothek werden verschwimmen. Ebenso, wie die Grenzen zwischen Autor und Leser zunehmend verschwimmen.

Doch wozu dann noch das Bibliotheksgebäude? Erleichtert von den Mengen der gedruckten Bücher ist dort nun viel Platz und Raum – zur Begegnung, zum gemeinsamen Arbeiten, zum Treffen von Bibliothekaren (die wird es weiterhin geben, aber ihre Rollen und Kompetenzen werden sich verändern) mit den Benutzern, zur Beratung, zur Unterstützung und Anleitung zum selbstgesteuerten Lernen.

Nicht nur unsere Lernkultur muss und wird sich verändern, sondern auch unser Umgang mit Informationen und Medien.«

 

[1] Vgl. Barthes, Roland (1978): Leçon. Frankfurt/M.; Barthes, Roland (1980): Die Lust am Text. Frankfurt/M.

[2] Iser, Wolfgang (1972): Der implizite Leser. München; Iser, Wolfgang (1984): Der Akt des Lesens. 2. Aufl. München

[3] In den USA gibt es bereits Prototypen dieser Bücher. Vgl. http://www.eink.com/index.htm

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