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»In der Geschichte AJABU geht es unter anderem darum, auf verschlungenen Umwegen zu dem Wunder zu gelangen, das in uns selbst wartet.« (Tobias Wille)

Interview mit Sabine und Tobias Wille (CAGATTI)

Tobias und Sabine Wille sind Gründer und Inhaber von CAGATTI Storytelling Games  in Berlin. Schwerpunkt von CAGATTI sind geschichtenbasierte Computerspiele zu wichtigen Themen.

 

FRANK THISSEN   »Wer steckt hinter CAGATTI?«

TOBIAS WILLE   Das Label CAGATTTI wurde von meiner Frau Sabine und mir gemeinsam gegründet. Erst im Jahr 2005 haben wir dem Namen den Zusatz »Storytelling Games« hinzugefügt, um im Rahmen zukünftiger Entwicklungen auch mit einem verständlicheren Äußeren auftreten zu können. Aber ungefähr in diese Zeit fällt auch, dass wir den theoretischen Hintergrund dessen, was wir tun präziser durchdacht und für uns selbst formuliert haben.

SABINE WILLE   »Storytelling Games« unterstreicht ja auch schön den Unterschied zwischen unseren Spielen und dem üblichen, eher reflexbasierten Computerspielen. In aller Regel verbindet man Spiele ja nicht unbedingt mit dem Erzählen von Geschichten.

Wer von Ihnen entwickelt oder schreibt denn die Stories?

SW   Mein Mann und ich sind bei jedem einzelnen Projekt die geistigen Eltern, sowohl hinsichtlich der grundsätzlichen Ideen für Charaktere, Namen, Story und Design, wie auch in Bezug auf mögliche Partner. Schon früh in einer Projektentwicklung greifen seine und meine Ideen so dicht ineinander, dass man wirklich sagen kann, dass unsere Kommunikation lebenswichtig ist für das jeweilige Projekt.

TW   So, wie wir Ideen gemeinsam finden und sie in einem langen Diskussionsprozess miteinander verbinden, so schreiben – oder besser entwickeln - wir unsere Geschichten auch gemeinsam.

Wer von Ihnen beiden entwickelt denn eigentlich die für CAGATTI so typische, detailreiche Grafik? 

SW   Zunächst einmal ist es selbstverständlich so, dass man so große und langwierige Projekte nicht alleine oder nur zu zweit machen kann. Viele Menschen arbeiten an so etwas mit und alle versuchen, ihr Herzblut zu geben. Und das muss auch so sein, sonst wird ein solches Spiel nicht schön und auch nicht ehrlich. Natürlich müssen wir die einzelnen individuellen Fertigkeiten und Eigenheiten aller Beteiligten in die richtigen Bahnen lenken, ihr Stilempfinden fördern, handwerkliche Fähigkeiten schulen, das kritische Sehen ausbilden und vieles, vieles mehr. Aber das geht schon ganz gut. Es ist natürlich hilfreich, wenn die Leute schon gute künstlerische Fähigkeiten mitbringen. Dann geht alles leichter.
Was uns selbst betrifft so sind die künstlerischen Fähigkeiten in Bezug auf die Grafik eigentlich gleich verteilt zwischen meinem Mann und mir. Wenn man unbedingt Unterschiede sehen will, dann ist er vielleicht eher der Mensch für Landschaften, Innenräume, Architektur usw. also die „Sets“ und meine Spezialität ist dann eher das Erschaffen authentischer Charaktere mit Seele. Aber ich mache auch »Sets« und er redigiert alle meine Charaktere. Also eigentlich kann man auch das nicht wirklich auseinanderhalten. Warum auch?

Von welchen Veränderungen sprachen Sie eben?

TW   Bislang haben wir gewissermaßen in einer schon fast »einsamen Nische« gearbeitet. Dabei wurde das Konzept der »storytelling games«, also narrativer Spiele zu ernsten Themen immer weiter verfeinert und zu einem hohen Reifegrad gebracht, auch theoretisch. Das gegenwärtige Projekt »AJABU – Das Vermächtnis der Ahnen«, das wir gemeinsam mit dem Bundesentwicklungsministerium produzieren, zeigt sehr deutlich, dass unser Grundkonzept der narrativen Spiele zu komplexen Themen reif ist, um auf internationaler Bühne erfolgreich zu sein.

Was bedeutet das konkret?

TW    Verschiedene Lokalisierungen von „AJABU“ sind angedacht oder geplant. Wir müssen sehen, wie sich das organisatorisch und finanziell machen lässt. Hilfreich dabei ist, dass wir „AJABU“ von vorneherein nicht aus einer spezifisch deutschen Perspektive geplant und realisiert haben. Die Story ist wirklich sehr international angelegt.

SW   Und auch viele andere Themen, die uns wichtig sind, scheinen schon in AJABU immer wieder einmal durch. Aber wir haben natürlich mehr dazu zu sagen, als wir es in AJABU tun konnten. Und es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass Themen wie Afrika, Rassismus, kulturelle Vielfalt, Globale Erwärmung und endliche Ressourcen oder auch Antisemitismus Themen von globalem Interesse sind.

Welches Ziel hat sich CAGATTI für die nächsten Jahre gesetzt?

TW    CAGATTI will einerseits die gerade eingeführten Marken „AJABU“ und unsere zwei jungen Helden, Sam Knight und Phoebe Mayflower, weiterentwickeln und auf neue Reisen und in neue Abenteuer schicken.
Und dann haben wir natürlich noch viele weitere Projekte bereits in Planung und neue Ideen für neue Helden und neue Abenteuer zu anderen historischen Zeiten und an anderen Orten der Welt: an ernsten und komplexen Themen, die dringend auf eine Bearbeitung warten, ist ja leider auch nicht gerade Mangel. Zunächst einmal wollen wir aber „AJABU“ in verschiedene Sprachen übersetzen und international vermarkten. Das liegt ja auch inhaltlich nahe. Das Thema Afrika braucht dringend mehr »promotion«“.

Wofür steht »AJABU« eigentlich?

SW   Der Ausdruck »AJABU« kommt aus dem Swahili. Es bedeutet, je nach Sinnzusammenhang, »Wunder« oder »erstaunliche, überraschende Sache«. Es kann auch »wunderschön« oder »wundervoll« heißen; und es bedeutet, »einzigartiger, außergewöhnlicher Gegenstand«.

TW   Dass AJABU ursprünglich aus dem Arabischen stammt, lädt es als Titel für unser Spiel symbolisch natürlich noch mehr auf, denn es gab ja leider auch viele Jahrhunderte die Geschichte eines arabischen Sklavenhandels mit Afrikanern.

Was ist denn dieses »Wunder« in dem Spiel »AJABU«?

TW   In der Geschichte »AJABU – Das Vermächtnis der Ahnen« geht es unter anderem darum, auf verschlungenen Umwegen zu dem Wunder zu gelangen, das in uns selbst wartet: wer sind wir, was zeichnet uns aus und was können wir besonders gut? Wie stehen wir zur Welt, und was können wir tun, um die Welt zu einem besseren Platz zu machen? Es geht darum, dieses »Wunder« zu finden, es zu verstehen, es zu befreien, zu ihm zu stehen und es dann für andere positiv nutzbar zu machen. Das ist für jeden etwas anderes.
Unsere Geschichte handelt neben allem, was wir über - oder von - Afrika lernen können, und worüber wir vielleicht vergessen haben nachzudenken, auch vom richtigen Maß, das wir als Menschen finden müssen, „AJABU“ handelt von Balance und Gerechtigkeit und von Haltung.
Ganz konkret – entwicklungsthematisch sozusagen – handelt „AJABU“ eigentlich von unzähligen und sehr verschiedenen Themen. Insgesamt sind es nahezu einhundert inhaltliche Punkte oder Themen, die wir verarbeitet haben. Manche werden breiter behandelt und andere nur angedeutet. Das machen wir im Einzelfall davon abhängig, was am ehesten der Geschichte gut tut.
»AJABU« ist im übertragenen, wie im konkreten Sinne tatsächlich eine Reise durch Afrika – und für unsere Helden auch eine Reise zu sich selbst.

SW   Und auf einer spielimmanenten, konkreteren Ebene ist »AJABU« auch der Name einer magischen Karte, mit Hilfe derer unsere Helden, Sam und Phoebe, von New York aus überhaupt erst nach Afrika kommen. Genau genommen erfüllt sich damit ein Zauber der in unserer Story vor einem halben Jahrtausend gestartet wurde. So fängt die ganze Geschichte auch an. Und mit diesem Vermächtnis kommen Sam und Phoebe im wörtlichen und übertragenen Sinne nach Afrika. Das Vermächtnis mit dem unsereins sich heutzutage mit Afrika beschäftigt ist ja nun wirklich kein einfaches Erbe …

Wie haben Sie versucht dieses Erbe anzutreten?

TW   Wie sich jeder denken kann, ist es alles andere als leicht, entwicklungspolitische Themen, zumal das „Thema Afrika“, für Kinder spannend und nicht oberlehrerhaft aufzubereiten.
Manche Themen sind ganz konkret und haben etwas mit unfairem Handel, Korruption, Blutdiamanten, Coltanabbau, Holzeinschlag, Artenschutz, indigenen Völkern oder Umweltzerstörung zu tun. An anderen Stellen geht es „nur“ um das Hinsehen und das Genießen der Bilder und an wieder anderen Stellen geht es um das Zuhören und Verstehen, wenn ein alter Mann unsere Hommage an Martin Luther King ist. Letztlich geht es darum, ob die Story spannend oder zumindest interessant bleibt. Da darf es durchaus immer wieder auch sehr lehrreich sein.

Was geschieht, wenn die Helden, Sam und Phoebe in Afrika ankommen?

TW   Nun, es ist wie im wahren Leben: (lacht) Sam und Phoebe geraten natürlich in ein Abenteuer, das sie bis zum Schluss nicht mehr loslässt; bis sie „die Tests bestanden“ haben sozusagen. Das sogenannte wahre Leben funktioniert ja oft auch ein wenig wie eine Story. Konstruieren wir nicht auch unsere eigenen Biographien, wenn wir sie niederschreiben oder erzählen wie Geschichten, die natürlich einem inneren, sinnvollen Zusammenhang folgen? Oft wird dieser innere Sinnzusammenhang aber erst später in die eigenen Erlebnisabfolgen hineingelesen. Aber zurück zu Sam und Phoebe: also abgesehen von dem „zauberhaften“ Element der magischen Karte, die unsere Helden nach Afrika verschlägt, entwickelt sich alles weitere, wie es im wahren Leben sein könnte.– nur dass es vielleicht nicht gerade Kinder wären, die eine solche Tour d’Afrique machen würden, oder könnten.

Wie genau funktioniert denn das Spiel „AJABU“?

TW   Eigentlich ähneln unsere „Storytelling Games“ sehr den klassischen 2D Grafik-Adventures, die es früher einmal gab und in denen der Spieler seinen Charakter, also „seine“ Figur, durch die unterschiedlichsten Orte, Landschaften, Spielsituationen steuert. So funktioniert ganz grob gesagt auch „AJABU“. Ein wesentlicher Unterschied zu den klassischen 2D Grafikadventures besteht aber darin, dass in unseren „Storytelling Games“, also auch in „AJABU“, der Anteil der Geschichte wesentlich höher ist. Der Spieler ist vor Situationen gestellt, in denen er eigentlich nicht weiß, was genau zu tun ist. Also erforscht er seine Umgebung, sammelt Gegenstände ein, die er später einmal gebrauchen könnte und spricht mit anderen Charakteren im Spiel. So erhält er wiederum Informationen, die er später wieder gebrauchen könnte und kann Aufgaben lösen, die sich ihm in Form von Hindernissen in den Weg stellen. So srbeitet er sich Stück für Stück voran und löst ein Rätsel nach dem anderen.

Ist es nicht sehr wichtig Story und Spiel miteinander auszubalancieren?

SW   Also, in unseren Spielen steht die Geschichte ganz dezidiert im Vordergrund. Die Rätsel und Aufgaben, die der Spieler zu lösen hat, werden der Story ganz klar untergeordnet. Das ist von Bedeutung, damit die Inhalte, die wir vermitteln wollen, überhaupt vermittelbar sind. Und einem Auftraggeber, wie einem Bundesministerium, kommt es natürlich sehr auf die Inhalte an. Die Balance zu finden zwischen faktischer Information, Story und Spiel ist nicht einfach und bedeutet viele Monate harte Drehbucharbeit, damit sich keines der drei Elemente irgendwie gezwungen anfühlt.

TW   Ob das letztlich gelingt ist dann auch dem Urteil der Kinder, die das Spiel spielen zu überlassen, denke ich.

Nochmal zurück zur konkreten »Tour d’Afrique«. Reisen Sam und Phoebe tatsächlich durch ganz Afrika ?

SW   Nein, leider nicht. Das hätte uns aber gefallen. Afrika hat 53 Nationen mit alleine 50 größeren Sprachen, ganz zu schweigen von der enormen kulturellen Vielfalt. Wir mussten uns also beschränken und das wird sicherlich auch so manchen Kritiker finden, denn die Auswahl der Länder, die wir im Spiel kennen lernen, und das auch wieder nur in sehr kleinen Ausschnitten, ist ziemlich subjektiv. Für Afrika repräsentativ sind also sicherlich weder die Auswahl der Länder, noch die Themen, denen wir uns widmen. Afrika ist einfach zu groß und zu divers, um es in einem einzigen Spiel darzustellen.

TW   Aber es ging ja auch nicht unbedingt um eine realistische Darstellung afrikanischer Lebenswirklichkeiten, als vielmehr darum, eine neue, andere Haltung gegenüber Afrika zu stiften. Neben aller „Belehrung“ dürfen wir natürlich nie vergessen, dass so ein Spiel auch unterhaltsam sein soll. Was langweilig ist, wird nicht dauerhaft memoriert. Wenn wir also in Bezug auf eine gewisse Leichtigkeit in der Vermittlung schwieriger Inhalte auch nur geringste Fortschritte gemacht haben, dann haben wir schon viel erreicht.

Wie nähert man sich denn so einem schwierigen Thema wie Afrika und wer legt welche Themen fest?

TW   Nach wochenlanger Recherche und Lektüre über Afrika, fängt man einfach irgendwo an und springt zwischen den verschiedenen Ebenen, also Story, Spiel, entwicklungspolitische Inhalte, Dramaturgie, Rätsel usw. immer hin und her. Relativ bald ergeben sich klare Vorstellungen von einem Anfang, möglichen Höhepunkten oder Katastrophen, harten Prüfungen , vor die man seine Helden vielleicht stellen möchte und den denkbaren Auflösungen.
Da AJABU ein Produkt der Bundesregierung und eines für Kinder ist, ergeben sich gleich mehrere Begrenzungsfaktoren, inhaltlich, gestalterisch, in Bezug auf das Spielerische im Spiel usw. Man arbeitet also schon bei der Entwicklung mit einer Schere im Kopf, was den Prozess kompliziert und langwierig macht. Man hat ja nicht die gleichen Freiheiten, wie bei einem vollkommen unabhängigen, kommerziellen Produkt. Schon so ein Konzept ist sehr arbeitsaufwändig.

SW   Gleichzeitig muss man natürlich auch unterstreichen, dass diese Beschränkungen auch Möglichkeiten mit sich bringen. Einerseits ist es künstlerisch wesentlich interessanter, sich nicht einfach ausleben zu können, sondern alternative Ausdruckswege finden zu müssen, um etwas vielleicht Hartes zu sagen. Andererseits ist es auch gerade erst der öffentliche Auftraggeber, der ein solches Produkt wagen kann. Derlei „Experimente“ sind in der freien, rein kommerziellen Spielproduktion, derzeit zumindest noch, nur schwer denkbar. Da ist die Fallhöhe dann doch eine andere.

TW   Absolut richtig. Das muss man wohl so sehen. Schon mit einem Beispiel kann man das Minenfeld, durch das man bei sowas geht, illustrieren: wie geht man bei einem im weitesten Sinne pädagogischen  Computer-spiel für Kinder seitens eines Bundesministeriums mit solchen Fakten wie Kindersoldaten, Tod, Aids, Malaria, gigantischen Migrationsströmen etc. um?

SW   Richtig. Auf der einen Seite spricht die Entwicklungscommunity in den letzten Jahren immer gerne davon, man solle doch mal besser die erfolgreichen und guten Seiten an Afrika stärker herausstellen. Und bis auf wenige Ausnahmen stellen wir zum Beispiel die Menschen, denen unsere Helden begegnen auch als schlaue und lebenserfahrene, absolut im Hier und Jetzt lebende Menschen dar, nicht als inkompetente, unheimliche, aber irgendwie auch faszinierende und schöne, aber eben doch „wilde Dummköpfe“. Andererseits aber hat Afrika ja nicht all die Probleme, die es hat, weil alles so toll läuft – siehe Kenia oder Simbabwe in diesem Jahr (2008) – um nur zwei Länder zu nennen. In Bezug auf Handelsbarrieren oder Umweltzerstörung zum Beispiel, müssen nicht die Afrikaner umdenken, sondern wir in den reichen Ländern.
Ein wirklich vermintes Terrain. Auch seitens eines Bundesministeriums ist so etwas ja kein leichter Gang!

TW   Absolut richtig. Der Mut, so etwas zu wagen, ist großartig. Und man muss, glaube ich, sich klar machen, dass wir bestimmte Dinge auch nur deshalb so formulieren konnten, wie wir das getan haben, weil es sich um ein Produkt eines Ministeriums und für Kinder handelt. Das nehmen viele Erwachsene einfach nicht wirklich richtig ernst. Aber für die message hat das auch sein Gutes ...
Aber noch mal zu der Frage, wie man mit der Themenfindung umgeht: Einige Entscheidungen sind dramaturgischer Natur. So kommen die Kinder zum Beispiel in Afrika als erstes in Tansania an, damit allen Spielern gleich klar wird, wo sie denn eigentlich gelandet sind. Ich glaube, die Spieler, wie auch die Kritik, wären wirklich erstaunt gewesen, wenn man dem ostafrikanischen Bilderbuchklischee der Savanne nicht begegnet wäre. Das will man einfach sehen.

SW   Andere Entscheidungen beruhen auf der Überlegung, den Erwachsenen den Zugang etwas zu erleichtern, z.Bsp., weil sie sich schon einmal mit Südafrika beschäftigt haben, dort waren oder gerne die nächsten Ferien dort verbringen würden. Es wäre schade gewesen, die Aufmerksamkeit für das ganze „AJABU“ dadurch zu minimieren, dass so Fragen wie „warum kommt Südafrika nicht vor?“ die wirklich interessanten Fragen an das Spiel überdecken würden.

TW   Und bestimmte Dinge folgen immer wieder einem Proporz oder einer Art Quote. Es wird nicht erstaunen, wenn wir erzählen, dass wir natürlich genau überlegen, wer männlich, wer weiblich ist und warum. Warum ist dieser schwarz, warum jener weiß? Wieso muss diese schwarze Wissenschaftlerin nun aus Botswana kommen oder aus Somalia. Haben wir Religionen halbwegs gut vertreten? Und so weiter.

Political Correctness ist ein Problem!

TW   Das kommt auf die Perspektive an. Man muss sich ja auch mal fragen, wem political correctness dient. Sie ist doch einfach auch ein hervorragendes Mittel, nicht Stellung zu beziehen, wirklich argumentieren zu müssen. Das kann für manchen ja auch nützlich sein. Wie so oft, geht es um die äußere Wirkung. Political Correctness kann manchmal auch ein Mittel sein, so korrekt zu werden, dass man sich das mutige Wort oder die unangenehme Wahrheit verkneift. Wir waren oft an dem Punkt, dass wir gesagt haben: „dann muss man wohl den Mund halten.“ Also, bei einem so vielschichtigen und historisch und in seiner Rezeptionsgeschichte belasteten Kontinent, wie Afrika, kann man eigentlich nur Fehler in der Darstellung machen. Und ich denke, so wird ein großer Teil der Kritik an diesem Spiel auch ausfallen.

SW   Fehlersuche ist ja ein beliebter Sport geworden. Es ist so viel einfacher, als zu argumentieren, warum man den Ansatz, ein solches Spiel zu machen, grundsätzlich für gut hält. Aber wir haben uns vorgenommen, das mit Geduld zu sehen. Es gibt auch dafür, also den Umgang mit Computerspielen, eingeübte Rederituale und man darf natürlich auch nicht vergessen, dass CAGATTI und das BMZ hier in einem angestammten Revier wildern, in dem der Diskurs seit langer Zeit verteilt ist. Auch auf dieser Ebene ist AJABU ein Versuch, Neuland zu entdecken. Vielleicht können wir ja diesbezüglich neue Debatten starten.

TW   Alle rufen nach weniger gewaltorientierten, wertvolleren Computerspielen. Aber wo sollen die denn herkommen? Irgendjemand muss sie schließlich machen. Und das geht zumindest derzeit noch nur mit großen persönlichen – sagen wir mal „Opfern“. Auch wenn das angesichts des Themas von „AJABU“ Jammern auf hohem Niveau ist.

SW   Auf die political correctness muss ich noch mal zurückkommen. Gerade bei der Beschäftigung mit Afrika kommt einem schnell das Gefühl, dass sogar Afrika selbst und viele Afrikaner ein so negatives Afrikabild haben, dass egal von welchem Ende her man die Debatte über die Rezeptionsgeschichte des Kontinents beginnt, das Ergebnis immer nur in dem größten Zynismus enden kann.

TW   Im Frühstadium der Spiel- und Storyentwicklung hat mal eine hochqualifizierte Dame von der FU-Berlin am Telefon zu mir gesagt, ich könne ein solches Spiel nicht machen, wenn ich nicht in Afrika gelebt hätte. Die Verachtung und schließlich Verteufelung des als „fremd“ Empfundenen in der Geschichte Deutschlands hat zu einer in weiten Teilen vollkommen naiven und undifferenzierten Anhimmelung des kulturell Andersartigen und irgendwie Geheimnisvollen geführt. Die Angst, etwas politisch Unerwünschtes zu sagen, kontrovers zu sein, geht so weit, dass man besser schweigt. Das ist natürlich gefährlich, weil man damit das Feld, etwas Konkretes zu sagen, leicht den Falschen überlässt.

Da ist Zynismus nicht mehr fern …

TW   Vollkommen richtig. Es bedeutet im Klartext: wenn es um Afrika geht, ist das Thema so vermint, dass entweder die Entwicklungscommunity sprechen darf, oder …

SW   … oder die Afrikaner sollten besser ein Aufklärungsspiel über ihren eigenen Kontinent selber machen. Denn nur sie können es ja eigentlich richtig beurteilen. Da kann einem schon der Kragen platzen, denn das hätten schon unsere Urgroßväter bringen können.

TW   … und das vergisst natürlich vollkommen, das zumindest zu einem großen Teil Europa, Arabien und Asien für die lange Geschichte des Leides in Afrika verantwortlich sind.

Ihre Spiele beschäftigen sich ja mit hochproblematischen Fragen. Warum denken Sie, dass ausgerechnet Spiele das richtige Medium hierfür sind?

TW   Ich denke gar nicht, dass Computerspiele ganz generell das richtige Medium dafür sind. Ich habe zum Beispiel Zweifel, dass man aus einem klassischen Simulationsspiel, wie es z.Bsp. Sim City ist, übertragen auf ein problematisches oder komplexes Thema, als Spieler wirklich so viele handlungsrelevante Schlüsse ziehen kann. Teilaspekte einer Simulation werden aber sicherlich immer außerordentlich lehrreich sein.

SW   Eine Wirtschaftssimulation kann z.Bsp. sicherlich über wirtschaftliche Zusammenhänge einiges erklären. Vielleicht muss man das auch nur groß genug denken. Eine Wirtschaftssimulation, die als MMP Game angelegt ist, und die ausreichend individuelle Entscheidungsspielräume für jeden Spieler zulässt, wäre vielleicht wirklich ein gutes Training für Investmentbanker, bevor es auf das Börsenparkett geht – wäre wenigstens weniger risikoreich ...

TW   Genau. Aber man muss sich wirklich darüber im Klaren sein, dass auch Computerspiele begrenzt sind. Selbst wenn man sie noch so groß denkt. Die Sache ist doch die: für jede Simulation und jedes Strategiespiel braucht es Stellschrauben auf Seiten der Programmierung, über die die als relevant eingestuften Faktoren ins Gleichgewicht zueinander gebracht werden müssen, damit das System Spiel läuft. Der clevere Spieler wird diese dechiffrieren  und damit das Spiel knacken. Man muss eine Simulation schon wirklich sehr groß denken, damit sie eines Tages die psychologischen Unwägbarkeiten implementieren kann, die eine echte menschliche Gesellschaft in einen Börsencrash führt oder nicht.

Ein solches Spiel würde Sie nicht interessieren?

SW   Oberflächlich betrachtet? Nein. Ganz und gar nicht. Aber der psychologische Teil wäre sicherlich interessant.

TW   Ich glaube auch, man muss da unterscheiden. Die Börsensimulation wäre vielleicht ein gutes Tool für die großen Banken oder Fondsgesellschaften. Aber ich denke, man sollte so ein Spiel mit einer Universität zusammen machen. Andererseits frage ich mich, ob für den Bereich der Erwachsenenbildung, in den das gewiss gehören würde, nicht eher wirtschaftshistorische Fachliteratur sinnvoller wäre. Was aber sehr lehrreich und gewiss spannend sein könnte, wäre eine Story, die vor der Hintergrundfolie eines Wirtschaftscrashs zum Beispiel dem von 1929 spielte. Ich denke überhaupt, dass erst eine Verknüpfung eines Geschehens mit einem individuellen Schicksal für uns Menschen Relevanz von Ereignissen stiftet.

Deshalb geschichtenbasierte Spiele ...

SW   Ganz genau. Aber das ganze Nachdenken über den Spielemarkt und über die Frage, auf welcher Grundlage 'storybased games' denkbar und machbar sind, hängt erst einmal in erheblichem Maße davon ab, wie sie in einen schon sehr stark strukturierten Markt neu integrierbar sind. Das ist auch von der strategischen Seite her nicht so leicht, wie man sich das wünschen würde. Also vor dem Storytelling kommt erst einmal die Frage, wie man die geeigneten Rahmenbedingungen schafft.

TW   Ich glaube, da muss man ausholen, oder?

SW   Ja. Grundsätzlich denke ich, dass sich die Welt der Spiele in den kommenden Jahren sehr verändern wird. Man muss sich mal vor Augen führen, welche Menschen derzeit daran beteiligt sind, dass Computerspiele entstehen und wie sie entstehen, wer sozusagen die „Spieler“ in diesem Wirtschaftsfeld sind.

TW   Da sind einerseits die Publisher, im Grunde große Computerspielverlage, unter denen in den letzten Jahren enorme Konzentrationsbewegungen zu beobachten sind, weil aus ihrer Sicht nur so noch Wachstum generierbar ist …

SW   … und weil kleinere Publisher meist mit irgendwie weiterverwertbaren IPs (intellectual properties) daherkommen, die für die größeren Publisher von Interesse sind, jenseits von Marktanteilen.

TW   … und dann sind da die Spieleentwicklungsstudios. Meistens entstehen die mit einer bestimmten Spielidee. Oft sind das junge Leute, die selber gerne Computerspiele spielen und mit viel Idealismus und Freude an der Sache starten. Klar, dass da meistens zwei sehr ungleiche Partner aufeinander treffen. Zwar geht’s ohne Finanzierung natürlich nicht – und keine Bank der Welt gibt ein paar Lausejungs eine Million Euro Spielgeld, um damit ein Spiel zu finanzieren, dessen Vermarktung noch nicht steht, dessen Erfolg durch die Bank nicht beurteilbar ist …

SW   … weil Banker eine eher kritische Sicht auf die Welt der Computerspiele haben …

TW   … vielleicht auch haben müssen … aber das Involvieren der Publisher hat natürlich auch inhaltliche Folgen. Jedenfalls, wenn das Spiel dann also finanziert und fertiggestellt ist, nimmt der Markt nur noch den Publisher wahr und nicht mehr den Entwickler. Das ist ungefähr so, als würde man nur die Buchverlage, nicht aber die Autoren oder nur die Plattenlabels, nicht aber die Interpreten kennen. Im Spielebusiness ist das durchaus so noch der Fall.

Das liegt sicherlich auch teilweise daran, dass zu viele Computerspiele relativ austauschbar sind, wenig Individualität oder Persönlichkeit besitzen. Letzteres fällt natürlich leichter mit storybased games als mit der nächsten Kriegssimulation.

SW   Wie auch immer, die Menschen, die Spiele machen, sind zu einem sehr großen Teil noch relativ technisch orientiert, Computerleute halt. Programmierer, Informatiker usw. Einerseits ist das schlicht und einfach begründet in der Geschichte der Computer- und Computerspieleentwicklung. Es ist gewissermaßen „Tradition“. Andererseits prägt diese technische Orientierung natürlich auch die Art von Spielen, die entstehen. Eine überwiegend männlich orientierte, relativ junge Gruppe gestaltet die Spiele, die in ihre Wunsch- und Erfahrungswelt hineinpassen. Die bestimmenden Faktoren sind Geschwindigkeit, Geschicklichkeit, Reaktionsvermögen, Strategie usw. – reflexorientierte Spiele halt.

TW   Und unbestreitbar gibt es auch eine starke Wechselwirkung zwischen der Hardwareindustrie und den Spielepublishern. Lange Zeit waren es vor allem die Computerspiele, die die Hardwareentwickler zu immer mehr Leistung zwangen. Einen Prozessor oder eine Grafikkarte an sein Limit zu führen, ist aus Sicht eines Spieleentwicklers gar kein Problem – ein paar mehr Partikel im Nebel, ein paar mehr Transparenzen, die in Echtzeit berechnet werden und schon ruckelt’s. Ganz klar beeinflusst das, was man technisch machen kann auch das, was man dann im Spiel präsentiert.

Und das wird sich ändern?

TW   Natürlich ist das jetzt etwas vereinfacht, aber es ist schon richtig, denke ich, dass die Akteure auch bestimmen, welches Spiel gemacht wird. Und das prägt dann eine Kultur, ob nun in einem bestimmten Unternehmen oder auch in einer ganzen Industrie. Ich vergleiche die gegenwärtige Situation der Spielbranche immer gerne mit der Frühzeit der Filmgeschichte. Zunächst galt es, technische Herausforderungen zu meistern, wie Licht, Material, Chemie, Timing, Logistik, dann Ton und Farbe usw.. Die frühesten Formen beschäftigten sich nur mit der Möglichkeit an sich, laufende Bilder zu produzieren. Das war schon eine Sensation. Als es dann darum ging, Ausdrucksformen für den Film weiter zu entwickeln schaute man zunächst auf den unmittelbaren Verwandten, das Theater. Lange Zeit war das Kino dem Theater sogar noch unterlegen – alleine wegen des fehlenden Tons.

SW   Machen wir buchstäblich einen riesigen Schnitt …

TW   Gut! Heute hat der Film eine unendliche Vielzahl ganz filmspezifischer Gestaltungsmittel entwickelt, die ihrerseits wieder in anderen Kulturtechniken kopiert und zitiert werden. Er ist in vielerlei Hinsicht gar zur kulturtragenden „Königsdisziplin“ geworden, an der sich andere Künste messen lassen müssen. Und heute spielen ganz andere Akteure eine Rolle beim Film, als in seiner Frühzeit. In den Anfängen waren das ja regelrechte Glücksritter. Viele, die nichts mehr zu verlieren hatten, gingen nach Hollywood – buchstäblich in die Wüste. Sich mit dem Film zu beschäftigen, Geld dort zu investieren, war geradezu unseriös. Ich glaube, wir wären geschockt, zu erleben, was da los war, im frühen Tinseltown. Aber es war eben auch das vollkommen ergebnisoffene, kulturelle Experimentierlabor.

SW   Und da sind wir bei der Zukunft der Spiele …

TW   Absolut richtig. Natürlich gibt es auch in der Spieleindustrie viel Geld. Es wird viel investiert und viel verdient – vor allem auf Seiten der Publisher und Händler. Und jedes Jahr wird der Markt größer. Wir reden alleine in Deutschland über ein Umsatzvolumen, das über dem der verkauften Kinokarten liegt (2007: 1,4 Milliarden Euro). Aber gleichzeitig haben Computerspiele und jene die sie machen ein sehr schlechtes Image. Die öffentliche Wahrnehmung, zumal in Deutschland, ist stark beherrscht von der Angst, diese Spiele seien grundsätzlich gewalttätig und würden letztendlich Gewalt evozieren. Immer wieder wird Computerspielen die Schuld an Phänomenen wie Jugendgewalt gegeben, statt über die tieferliegenden Ursachen nachzudenken.

Aber an Spielen wie AJABU sieht man auch die Chancen.

SW   Das denke ich auch. Es wird Zeit, digitale Spiele nicht einfach als Schmuddelanwendungen für den PC anzusehen, sondern sie als Medium wahrzunehmen - im Schlechten wie im Guten. Und die Story von „AJABU“, erzählt in einem Spiel, versucht ja, ein positives Beispiel zu liefern für die Chancen, die man mit Computerspielen haben kann.

TW   Als Medium sind Computerspiele zunächst einmal ein Vehikel, um Informationen, gleich welcher Art, zu transportieren. So wie auch Bücher, Radio oder TV. Es kommt einfach darauf an, was man damit macht. Das Medium Spiel in Generalverdacht zu nehmen, ist vielleicht vergleichbar damit, die Erfindung des gedruckten Buches in Generalverdacht zu nehmen (was ja übrigens anfangs auch der Fall war). Ich denke durchaus, dass die Ablehnung des Mediums Computerspiel auch etwas damit zu tun hat, dass eben manche Akteure, die in der öffentlichen Meinung eine große Rolle spielen, nicht nur nichts über das Machen von Spielen wissen, sondern auch selten mal eines gespielt haben und die Emotionen nicht einordnen können, die es hervorruft.

Es geht also auch um so etwas, wie die Kontrolle über den Diskurs

SW   Absolut. Ja, das kann man glaube ich so sagen. Die Welt der Computertechnik hat sich – nicht zuletzt unter enormem Einfluss der Spiele – in den letzten Jahren so ungeheuer schnell entwickelt, dass man gewiss einen Generationenbruch hinsichtlich der Fitness im Umgang mit der Kulturtechnik Spiel feststellen kann. Viele junge Menschen sind ganz selbstverständlich mit der Technik aufgewachsen und benutzen sie intuitiv. Spiele sind nur ein Teilaspekt dieser Welt. Dahingegen können viele, die eigentlich Entscheidungsträger sein sollten, diesbezüglich oft nur schwer dieser Rolle entsprechen, weil ihnen einfach viele Informationen über diese Welt fehlen.

Ich finde es interessant, dass Sie von der Kulturtechnik „Spiel“ sprechen?

TW   Ich finde den Ausdruck absolut angebracht. Sowohl hinsichtlich analoger, wie digitaler Spiele. Derzeit besteht der Hauptbeitrag der Computerspiele zwar noch in der Förderung der Computertechnik selbst. Aber genau das wird sich, glaube ich, in den nächsten Jahren Schritt für Schritt ändern.

SW   Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem technisch das Allermeiste, was man sich für ein Spiel vielleicht wünschen möchte, eigentlich auch möglich ist. Die meisten Effekte und Partikelsystem wurden inzwischen bereits gesehen und ich denke, dass es eine selbstverständliche Sache ist, wenn neue Entwicklungen die Welt der digitalen Spiele bereichern wird. Stories innerhalb von Spielen zu erzählen, liegt ja eigentlich sehr nahe. Klar, man muss natürlich nachdenken über die begrenzenden Faktoren des jeweils einen für das andere.

TW   Ich denke auch, dass der Markt sich diversifizieren wird – ausgesprochen narrative Spiele sind da eine gute Möglichkeit. Diversifizierung ist eine natürliche Folge der Alterung eines Mediums. Und damit der Markt weiter wachsen kann, sind neue Formen des Computerspiels sowieso unabdingbar.

Aber narrative Elemente sind in der Regel linear und Computerspiele erfordern ihrer interaktiven Struktur nach doch eigentlich Nonlinearität?

SW   Bislang war das in der Tat so und es hatte sich aus denjenigen Spielformen ergeben, die sich aufgrund der Natur der Rechentechnik quasi aufdrängten. Aber die Diversifizierung des Marktes wird auch Nischen für andere Spielformen schaffen.

Ich glaube die negative Bewertung der Linearität in Spielen wird maßlos übertrieben. Wenn etwas anderes im Mittelpunkt eines Spiels steht, als reflexbasiertes Handeln, werden viele neue Spieleformen denkbar. Eine davon werden »storybased games« zu allen möglichen Themen und Inhalten sein.

TW   … und mit welchen Strukturen und nach welchen Prinzipien man das jeweilige Spiel entwickelt, ob linear, non-linear, oder als Mischform von beidem, spielt meines Erachtens auch gar keine allzu große Rolle. Das hängt doch komplett von der Story ab, und davon, mit welchen Mitteln man sie am besten erzählt. Auch in Romanen und Filmen gibt es Sprünge, Rückblenden, Alternativ- oder Variationsentwicklungen einer bestimmten Situation usw. Überhaupt wird es in der Zukunft einen vielfältigen Transfer von Film-, Regie- und Drehbuch-Knowhow hin zu narrativen Spieleentwicklungen geben. Und irgendwann auch wieder zurück …

Sie folgen also nicht immer denselben, strengen, zumal pädagogischen Prinzipien in Ihren Geschichten?

SW   Ich habe zwar selbst mal Pädagogik studiert, aber nein, wir wenden kein pädagogisches Prinzip an. Ich halte das auch nicht für zielführend. Denken Sie nicht auch, dass es kein leichteres Lernen gibt, als das Lernen durch die „drei Säulen“ Stories, Bilder und Spielen?

TW   Ich bin sogar überzeugt, dass die Strukturen des Storytellings den Strukturen unseres Lernens und jenen unseres Gehirns am ehesten entsprechen. Das Gehirn organisiert Erlerntes am ehesten über die Verknüpfung von Erfahrungen, die auf unterschiedlichen Erlebnisebenen gemacht werden. Zusammenhangloses Wissen geht eben deshalb so schnell verloren, weil es sich nicht auf eine vorhandene Struktur stützen kann. Um Information eingängig und nachhaltig zu vermitteln ist das Verknüpfen von interagierenden Charakteren in einem glaubwürdigen, erlebbaren Handlungsrahmen sehr effizient.

SW   Ja, man muss sich auch mal vor Augen halten, dass das Storytelling eine der ältesten Kulturtechniken  der Menschheit ist. Lange bevor Schriftsysteme erfunden waren, haben Menschen ihre Erlebnisse, ihre Wünsche und Hoffnungen, aber eben auch überlebensnotwendige und kulturerhaltende Informationen in Form von Geschichten strukturiert, memoriert und transportiert.

TW   Kulturgeschichte ist meines Erachtens ohne das Erzählen von Geschichten schlicht undenkbar.

Wenn ich also nach einem leichteren Erlernen der Mathematik suche, nehme ich mir eine Märchenfigur her und schon fällt Mathe allen Kindern leicht.

SW   Ganz so einfach wird das nicht sein, befürchte ich. Nun ist Storytelling ja schon fast ein inflationär gebrauchter Begriff. Seit langem verwendet die Werbebranche zum Beispiel – sagen wir mal – „storyhafte“ Stilelemente. Echtes Storytelling kann in der Werbung nicht so einfach funktionieren, schon weil der Werbung die Zeit zur Charakter- und Problementfaltung und -entwicklung fehlt. Da ist man gut beraten, eher in Form von Episoden zu denken.
TW   Storytelling Games erzählen richtige Geschichten, die genau so auch als Film oder Roman erscheinen könnten. Eine Story braucht eine echte Dramaturgie und eine echte Entwicklung der Hauptcharaktere. Aber zurück zur Mathematik. Kinder begreifen die Funktionsweise von Stories instinktiv und lassen sich so leicht nicht täuschen. Für sie muss sich eine Geschichte nicht nur unterhaltsam, gruselig, spannend, exotisch und so weiter anfühlen, es muss auch einen Grund geben, warum sie überhaupt erzählt wird. Wenn der eigentliche Grund die Vermittlung von Formeln ist, damit man diese selber rechnen lernt, dürfte der Spaß schnell verloren gehen. Spaß aber, vermittelt ein positives Gefühl und das Gehirn speichert unter Einfluss dieses Gefühls schneller und dauerhafter, als unter Angst und Druck. Im Gegenteil unter Spannung assoziiert das Gehirn mit der jeweiligen Information Stress und merkt sich unter der Ausschüttung entsprechender Hormone überhaupt nichts mehr. In einer guten, ernsthaften Story muss es deshalb ein echtes Problem geben, Helden, Übeltäter und charakterliche Entwicklungen.

Spass und Unterhaltung sind also wesentliche Schlüssel zum dauerhaften Lernen.

TW   Definitiv ja. Und ich würde noch weiter gehen und sagen, dass es ohnehin besser wäre, man würde den Begriff des „Lernens“ durch die Begriffe „Erfahren“ oder „Erleben“ ersetzen. Das macht den ja eigentlich körperlichen Zusammenhang zwischen der Information einerseits und dem Organ, das diese verarbeitet und speichert klarer. Am meisten und am leichtesten lernen wir durch das Erleben, was auch evolutionär Sinn macht. Überhaupt denke ich, dass wir in der Mehrheit immer noch ein zu mechanistisches, technizistisches Bild vom Lehren und Lernen haben.
Das Storytelling unterscheidet nicht zwischen den faktischen Werten (Wissen) und den emotionalen Werten einer Begebenheit. So wie für das menschliche Erleben beides immer zusammengehört, vermag auch die erzählte Geschichte das Erleben, das Erlernen und die emotionale Bewertung des Erlebten und Erlernten miteinander zu verbinden. Bedeutung erhält das Faktum immer erst durch seine emotionale Einordnung. Die funktionierende Geschichte ermöglicht, anders als der Fachtext, gewissermaßen die Simulation der gelebten Erfahrung am eigenen Leib. Das bedeutet, dass Geschichten, so, wie auch Kunst und Spiel eine gewisse Form des risikolosen Experimentes darstellen, mit Hilfe dessen Menschen, im Abgleich mit ihrer tatsächlichen Lebenserfahrung, Erleben ausprobieren können, ohne die Konsequenzen tragen zu müssen.

SW   In Geschichten verpacktes Wissen vermag auch simple Fakten besser zu speichern: durch vorgestellte Bilder, die durch das unmittelbare Erleben der beschriebenen Charaktere evoziert werden (Emotionen), wird das Faktenwissen tiefer verankert und leichter wieder abrufbar.

Also wie könnte man dann zum Beispiel das Lernen von Mathematik mit Hilfe von Geschichten erleichtern?

TW   Vielleicht könnte man mathematische Inhalte in einen historischen Zusammenhang stellen, also zum Beispiel die Geschichte berühmter Astronomen oder Naturforscher erzählen und die Kinder buchstäblich erleben lassen, wie spannend oder sogar lebenswichtig Mathematik werden kann, wenn es um Planetenbewegungen und dergleichen geht. Eine Lebensgeschichte eines Mathematikers, Physikers oder Astronomen spannend erzählt, ließe es außerdem zu, authentisch zu bleiben beim Erzählen, ohne sich den Kindern anzubiedern. Kinder verstehen die Finte sofort, wenn Rotkäppchen herhalten muss für die Rechnung, wie viele Flaschen Wein am Ende noch im Korb sind. Das ist doch albern.

Es scheint, als läge die Verbindung von Storytelling und Lernen eigentlich sehr nahe. Warum ist das nicht längst ein riesiges Thema?

SW   Das stimmt. Es liegt wirklich nahe. Lässt man zum Beispiel Kinder unbeaufsichtigt spielen, simulieren sie ganz selbstverständlich ihre Alltagserfahrungen und stellen diese, repräsentiert durch Figuren, also gewissermaßen „personal characters“, selbst nach. Also, die Zusammenfassung von Inhalten in narrativen Strukturen und deren Erprobung im Spiel, scheint eine dem Menschen angeborene Sache zu sein oder kulturelle Faktoren sorgen dafür, dass dieses Verhalten zumindest extrem früh nachgeahmt wird. Interessant ist auch, das m.W. dieses Verhalten in allen Kulturen zu beobachten ist. Ich würde fast soweit gehen wollen und behaupten: das Spielen und das Erzählen von Geschichten sind kulturelle Techniken, die existieren, auch wenn sie nicht mehr rückführbar sind auf unmittelbare Zweckgebundenheit. Menschen tun beides einfach von Natur aus. (Selbst Tiere spielen …)

TW   Warum das allerdings bislang kein besonderes Thema in der Pädagogik oder überhaupt im Zusammenhang mit dem Lernen war, kann ich mir eigentlich nur durch die Aufklärung bzw. das Zeitalter der Entwicklung systematischer Wissenschaften erklären.

Muss man denn nicht gerade der Aufklärung unterstellen, dass sie geholfen hat, unsere Selbsterkenntnis erst zu vervollkommnen?

TW   Ja und Nein. Im Gegensatz zu einer gewissen Unmündigkeit zuvor mag das ja sein. Andererseits ist dadurch auch eine Haltung entstanden, die den Menschen erst hat glauben machen, die Welt wirklich in Gänze verstehen und beherrschen zu sollen und v.a. zu können. Gerade im Zeitalter der systematischen Wissenschaften, das ja nicht umsonst erst einmal mit der Beschreibung der Welt beginnt, entsteht aus der Systematisierung, der Erkenntnis, das gewisse Dinge immer demselben Prinzip folgen usw., einen bestimmten Aufbau haben usw. auch eine Aufspaltung, eine Trennung der Phänomene. Die Beschreibung der Arten ist ein gutes Beispiel dafür. Für den Beginn der systematischen Wissenschaften war das sinnvoll und notwendig. Aber es hatte eben auch andere Folgen – mentalitätsgeschichtliche.
Nicht umsonst wird Leibniz – zumindest in Deutschland - oft als der letzte Universalgelehrte bezeichnet. Für ihn waren die Wissenschaften noch nicht getrennt, sondern die Welt stellte sich noch als komplexes System, als Geflecht dar. Aber, um in die Moderne aufbrechen zu können, musste der Mensch vermutlich alles in Disziplinen, Fachgebiete und letztlich „Schubladen“ wegsortieren. Heute wird das immer mehr zu einem großen Problem und es gibt viele Gegenbewegungen.

Sind wir auf einem Weg zurück?

SW   Nein ganz sicher nicht. Aber andererseits ist es ja schon fast eine Platitude geworden, von der Vernetzung und der Interdisziplinarität zu sprechen. Darin zeigt sich durchaus die Erkenntnis, dass es gerade daran mangelt. Aber in der Tat in manchen Gesellschaften oder auch gesellschaftlichen Teilbereichen bei uns, sind wir auch definitiv schon längst wieder in einem quasi voraufgeklärten Zustand angekommen. Insoweit sind wir auf einem Weg zurück, ja. Die Geschichte entwickelt sich wohl tatsächlich in Wellenbewegungen. Es kommt darauf an, mit was für einem Schiffstyp man unterwegs ist, ob man’s merkt oder nicht …

Welche Rolle könnten narrative Spiele spielen?

TW   Wir sind davon überzeugt, dass narrative Spiele, sofern sie komplex und kritisch genug sind, Kindern schon sehr früh das Gefühl für die Interdependenzen der sie umgebenden Phänomene geben können. In einem Spiel., dass sich zum Beispiel mit mathematischen Inhalten beschäftigen würde, könnten eben die vielfältigen Verknüpfungen und Abhängigkeiten zwischen Entdeckungsreisen, Navigation, Astronomie, Handelsströmen, Wertschöpfung und Finanzmathematik, Machterhalt und Machtverlust, Wissenschaftsentwicklungen, Politik und so weiter und so weiter erlebbar und hörbar und fühlbar und geradezu tastbar werden – ganz abgesehen davon, dass das am Computer spielende Kind auch noch selber handeln und entscheiden kann, also tatsächlich erlebt, wichtiger Teil in den Ursache-Wirkungsketten zu sein.

Also narrative Spiele statt Frontalunterricht?

SW   So, wie ich mir das ideale narrative Spiel vorstelle, aus dem ich lerne, gibt es schon einen enormen Unterschied zwischen einem klassischen Frontalunterricht, in dem ich Fakten referiert bekomme oder sie lese und diesen Spielen. Narrative Computerspiele bilden insofern eine wundervolle Brücke zwischen erfahrbaren Fakten und deren Bedeutungen oder Auswirkungen einerseits und ihren emotionalen Wirkungen auf die Menschen, die damit umgehen wollen oder müssen andererseits. Und Computerspiele dieser Art können Kindern helfen zu lernen, wie es sich anfühlt, Entscheidungen zu treffen und dann zu sehen, was passiert.

TW   Ich finde den Punkt der Entscheidung oder des Sich-Entscheidens sehr spannend. Zwar konstruieren wir unser Leben im Nachhinein ja oft als Story und stellen dann Dinge, die halt so geschehen sind, Zufälle vielleicht, als unsere eigenen Entscheidungen dar. Aber im echten Leben ist das ja oft gar nicht so.
Aber aus dem Spielen, oder Nach-Spielen, kann man auch lernen, dass Entscheidungen etwas Gutes und Bereicherndes sind. Sich zu entscheiden zu lernen, ist von allerhöchster Bedeutung für das menschliche Leben. Und das kindliche Spiel kann insoweit als wie ich das immer nenne „gefahrlose Simulation der Realität“ gesehen werden. Dabei können narrative Computerspiele helfen, auch wenn sie selbst eben keine Simulationsspiele im eigentlichen Sinne sind.

Das klingt nach einer Revolution des Lernens.

TW   Es muss ja nicht direkt eine „Revolution“ sein. Belebung und Erneuerung, „Renaissance“ wäre ja schon hilfreich. Man kann wahrscheinlich auch nicht alles spielend lernen. Aber wenn man sich die Entwicklung unserer „modernen“ Schulsysteme ansieht, kann einem schon auffallen, dass es natürlich eine lange Periode gibt, in der sich die systematischen Wissenschaften und das Lehr- und Lernsystem, bis hin zu den dazugehörigen Verwaltungsakten – Schulpflicht, Lehrerausbildung, Lehrpläne  etc. parallel entwickeln. Erst als die moderne Psychologie langsam beginnt zu wirken, verändern sich die klassischen Schulstrukturen ein wenig, passen sich an.
Aber noch heute sind diese verblüffend nahe an jenen Strukturen, die vor über 200 Jahren und mehr Praxis waren. Und eine schon klassische Beobachtung, die man machen kann, ist, dass fast jedes Kind sich auf die Schule freut und nach kürzester Zeit enttäuscht ist. Lernen muss immer Spaß machen. Wenn es das nicht tut ist das nicht ein Zeichen dafür, dass es eben besonders ernster oder wichtiger Stoff ist, sondern dafür, dass er falsch vermittelt wird. Ich denke oft, dass es leichter ist, ein falsch erlerntes Faktum zu korrigieren, als eine falsche Einstellung zu den Dingen zu ändern. Bildung sollte mehr mit Haltung als mit Faktenwissen zu tun haben. Da kann der Computer vielleicht hier und da helfen.

SW   Diese Punkte sind ganz sicher doch auch den allermeisten Lehrern und Hochschulprofessoren klar. Aber das System, wie wir lehren und belehrt werden, erlaubt ja nicht wirklich Alternativen. Dazu bräuchte es eine Veränderung derjenigen Strukturen, von denen mein Mann eben sprach.

Worin liegt denn die besondere Rolle des Computers in diesem Zusammenhang?

SW   In seiner grundsätzlichen Offenheit. Heute schon und in Zukunft noch mehr, kann der Rechner alle möglichen Formen von Inhalten vermitteln und in medialer Form repräsentieren. Es ist natürlich ein Missverständnis, wenn gesagt wird, der Computer mache da irgendetwas einfacher oder schneller oder ersetze den Menschen. Das halte ich für Unfug. Eher im Gegenteil der Computer macht mehr Arbeit, als er abnimmt. Aber mit Hilfe des Rechners werden eben auch Bildungschancen ermöglicht, die wirklich neu sind.

TW   Ich denke auch. Der Computer macht die Dinge im Gegenteil komplizierter, weil man sich nun auch mit ihm selber als „Medium“ oder „medienzusammenfassende Maschine“ beschäftigen muss – sich zu ihm verhalten muss. Einfacher macht er die Dinge nur insofern, als das uns mit dem Computer endlich eine Technik zur Verfügung steht, mit der wir die Welt in ihrer Komplexität, mit all ihren Unwägbarkeiten und Interdependenzen wirklich adäquat darstellen können. Also vielleicht besteht der innovative Job des Lehrers der Zukunft eben nicht mehr im Frontal- oder Projektunterricht, sondern in der Fähigkeit all jene Fragen klug zu reflektieren, die Kinder stellen werden, nachdem sie ein Storytelling Game gespielt – erlebt haben …

SW   … es erst mit ihnen gemeinsam erleben, ihnen vorleben, wie verschieden die Sichten auf das neu Gehörte sein können und dann dort weitermachen, wo das Spiel vielleicht aufhören musste. Ja, das wäre wirklich gut. Ich sehe eine wichtige Aufgabe unserer Storytelling Games auch darin, jene Begeisterung für bestimmte Themen zu stiften, zu der viele Lehrer nicht in der Lage waren oder keine Gelegenheit mehr haben. Begeisterungsfähigkeit ist überhaupt ein Schlüssel! Nie lernt man so leicht, wie im Zustand der Begeisterung ...

TW   Und ich denke immer wieder, das es bestimmt viele Menschen gibt, die aus dem Lesen der Bücher in Kindheit und Jugend mehr für das Leben gelernt haben, als sie aus der Schule mitnehmen konnten. Was für eine Ressourcenverschwendung. Wir verbringen mit den im Idealfall 12 bis 13 Schuljahren viel zu viel Zeit mit dem Erlernen von Dingen, die wir entweder nie brauchen oder die uns im schlimmsten Fall für das echte Leben nicht vorbereiten oder helfen, mit ihm später zurecht zu kommen. In einer globalen Welt, die jeden Tag schneller wird, ist die Art, wie wir lernen, egal ob das jetzt die Schule, die Universität oder der Lehrbetrieb ist, einfach zu ineffektiv, zu langsam, oft nicht up-to-date und meist nicht praxisorientiert. Wir verbrauchen zu viel Zeit für zu wenig outcome -- an Haltung und Wissen.

Können Sie ein Beispiel dafür geben?

SW   Ja, zum Beispiel – Multikulturalität, Diversität der Völker. Wenn ein Mensch aus seinem Dorf nie herausgekommen ist bislang, und dann endlich das erste Mal in einer Stadt landet, wie London oder New York und sieht, wo sich Menschen und Kulturen, Religionen und Sprachen tatsächlich mischen, wo sie getrennt bleiben und wo Menschen die vielen Millionen Zwischenwege einschlagen, also sich in der einen Sache – Familienangelegenheiten vielleicht -  mischen und in der anderen Sache – Weltanschauungen vielleicht - trennen und doch miteinander leben. Das ist für unseren Dorfbewohner ein Schock. Da kann der hundert Dokumentationen gesehen haben. Wenn dieser Mensch aber als Kind vielleicht ein ausgedehntes Spiel gespielt hat, das ihm eben diese Welt vorgeführt hat, sie ihn hat erleben lassen. Könnte es nicht sein, dass er dann besser vorbereitet ist?

Sie meinen, besser als durch einen zur Toleranz aufrufenden Frontalunterricht?

TW   Absolut, ja. Ich bin mir sicher. Im Spiel hätte das Kind die guten und die problematischen Seiten an dieser Welt schon einmal erlebt. Auf eine absolute Exaktheit kommt es dabei gar nicht an. Es hätte echte Erfahrungen gemacht, denn ein Buch, ein Spiel, eine Story, Musik, Bilder, das sind nicht einfach nur Repräsentationen dessen, was sie darstellen, gerade für Kinder sind sie tatsächlich das, was sie darstellen. Kinder nehmen diese ihnen präsentierten Welten sehr ernst. Deshalb habe ich auch so wenig Verständnis für diese süßliche, schreiend bunte und die Kinder vor allem bewahren wollende Art vieler Kinderprodukte. Sie lehren dem Menschen nicht den Respekt vor Kultur, Tradition und Zivilisation oder vor der Natur, sie trainieren ihn ab, wo er in Ansätzen schon vorhanden ist. Der Wert des Leben, von Kulturen oder eben eines Gedankens oder einer Sache wird auch in ihrer Schönheit oder Ästhetik gespiegelt. Schönheit hebt die Dinge über die Realität hinaus und Respekt, Ehrfurcht und Bewunderung haben wir Menschen vor der Schönheit, nicht vor dem Hässlichen.

SW   Ich glaube auch, Erwachsene mögen dieses Süßlich-Bunte lieber als Kinder, weil es dieses Erwachsenenideal der behüteten Kindheit so entrückt repräsentiert, als eine in sich geschlossene, nur für Kinder geltende Welt. Aber Kinder sind in ihren Anlagen Menschen, die gut und böse, gerecht und ungerecht, schön und hässlich, freundlich und unfreundlich und all die Grautöne dazwischen durchaus verstehen können. Sie haben nur für die Entschlüsselung der Zusammenhänge und Interdependenzen oft zu wenig Erfahrung.

SW   Ich glaube wirklich, dass Harry Potter auch deshalb so erfolgreich war und ist, weil Joan K. Rowling’s Bücher unglaublich viele historische Fakten liefern und klare moralische Vorstellungen präsentieren, zu denen man sich als Leser verhalten muss. Joan K. Rowling ist ein bedeutender 'Leuchtturm'.

Eignen sich Storytelling Games für alle Schulfächer oder Themen?

TW   Narrative Spiele sind gewiss kein Allheilmittel, aber sie stellen eine gute Möglichkeit für das Publikum dar, sich mit den unterschiedlichsten interdisziplinären Themengebieten ganz direkt auseinander zu setzen und dabei eignen sie sich doch erstaunlicherweise für größere Zielgruppen, was das Alter anbetrifft, als man gemeinhin annehmen würde.
Storytelling Games eignen sich dabei ganz besonders für all jene Wissensgebiete, die über klassische Schulfächer aufgrund deren Begrenztheit nur schwer vermittelbar sind, oder die eben fächerübergreifend sind. Wir betonen deshalb auch immer, dass wir keine „Lern-“software im herkömmlichen Sinne machen, wie zum Beispiel eine Mathematik- oder Englischsoftware. Was wir machen ist mit dem Begriff der „educational software“ besser beschrieben, also mehr im Sinne von Erziehung, als von schulischem Lernen.
Durch unsere erzählerischen Spiele werden quasi tatsächliche Begegnung mit Welten möglich, in die man nicht reisen kann oder in die zu reisen vielleicht auch gar nicht übermäßig wünschenswert wäre. Der immersive Charakter des Computerspiels und das von hinten beleuchtete, digitale Bild sind dabei so anziehend, dass man sich dieser Wirkung nur schwer entziehen kann. Dazu tragen natürlich auch die ruhige Atmosphäre und die sympathischen Charaktere unserer Spiele bei.

Charaktere sind in Ihren Spielen überhaupt von großer Bedeutung.

TW   Eigentlich beginnen wir immer mit den Charakteren, denn erst durch sie wird uns überhaupt erst vorstellbar, wie sich eine Situation entwickelt. Ein sich gerade erst entwickelnder Held wird in einer brenzligen Situation vielleicht eher die Entscheidung treffen, den Rückzug zu wählen und einen schlauen Ausweg zu finden, weil er sich seines mangelnden „Reifegrades“ bewusst ist. So wird einem klar, was ein Charakter zu einem Zeitpunkt in der Geschichte tun kann und was unwahrscheinlich ist. Das hilft enorm bei der Storyentwicklung.

SW   Alle großen Geschichten leben von ihren großen Charakteren.

Entscheidungswege von Menschen sind oft schwierig. Ist das nicht zu komplex für Kinder?

TW   Die Antwort darauf ist mehrschichtig. Nicht immer ist es für ein Kind notwendig zu verstehen, dass ein Charakter eine bestimmte Sache macht, weil er sich so entschieden hat, oder? Gerade wenn man diese Art von Produkten für Kinder macht, muss einem klar sein, dass Kinder die Dinge oft so hinnehmen können, wie man sie ausdrückt. Darin liegt ja gerade die Chance, wenn man verantwortungsbewusst damit umgeht.
Ich finde einen anderen Punkt wichtiger: wenn ich beschreibe, was ein Ereignis mit einem Charakter macht, dann kann sich das normale Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten in diesen Charakter hineinversetzen. Empathie ist eine der frühesten Eigenschaften, die ein kleiner Mensch entwickelt.

SW   Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, dass die Menschheit Wissensvermittlung und Wissensspeicherung so früh mit Narration verknüpft hat.

TW   Ja, ich glaube, dass das so ist. Narration ist eine der ältesten Mnemotechniken, weil der Mensch durch soziale Interaktion am schnellsten die Relevanz eines Ereignisses überprüft. Und in Stories sind die Charaktere eben Stellvertreter echter Menschen.
Alles, was geschieht, hat doch auch menschliche Dimensionen und wirkt sich emotional auf Menschen aus. Deshalb können Charaktere und ihre Aktionen der Spiegel für die Bedeutung einer Sache sein: ich kann die US-Immobilien-Finanzkrise viel leichter an Hand einer Familiengeschichte erzählen, als sie abstrakt zu erklären. Wirklichen Sinn macht das Geschehen erst, wenn ich seine Bedeutung im Sinne der Auswirkungen für Menschen erlebe. Das ist der Grund, warum ich denke, dass sich Storytelling Games vor allem für jene teils sehr komplexen Themen eignen, die international von Bedeutung sind und die kulturübergreifende Werte betreffen; also Themen, für die man Zeit und Raum braucht, um sie innerhalb eines Spiels zu entwickeln – vom Klimawandel über die Situation Afrikas bis hin zum Antisemitismus.

Setzt man denn als Entwickler oder Auftraggeber und Herausgeber solcher Computerspiele nicht zu viel bei den Kindern voraus – auch an Vorwissen?

SW   Die Frage nach einer möglichen Überforderung begegnen wir öfter. Es ist eine Diskussion, die wir seit Jahren immer wieder mit Auftraggebern hatten und haben. Ich persönlich glaube ja nicht, dass man Kinder überhaupt überfordern kann. Wenn sie überfordert sind, schalten sie innerlich ab und bekommen nichts mehr mit. Ich denke, ein Storytelling Game würden sie dann einfach ausmachen und zur Seite legen.
Andererseits ist die Neugier von Kindern doch so groß, dass sie weniger schnell überfordert sind als viele Erwachsene. Die große Kunst, um die wir uns immer bemühen müssen ist, genau das richtige Maß zu treffen zwischen Unterhaltung, Spannung und einfach schönen Bildern und guter Story einerseits und einer Wissensvermittlung, die wirklich funktioniert, also die Haltung positiv beeinflusst, andererseits.

TW   Was das Vorwissen angeht, so ist es mit unseren Spielen wie mit Erfahrungen, die man im Alltag macht. Manches kennt man schon, anderes nicht. Wenn man ein neues Buch liest benötigt man auch kein Vorwissen – man legt einfach los. Ein gutes Storytelling Games ist wie eine Reise in ein exotisches Land. Alles ist irgendwie vollkommen neu aber dennoch findet man Wege zu kommunizieren und kommt irgendwie durch. Ajabu funktioniert genau so.

Der Trend geht zu Internetspielen, mobile games und überhaupt zu Spielen, die man mal eben schnell nebenher durchspielt. Sehen Sie narrative Spiele da nicht gegen den Trend?

TW   Wenn etwas neu ist, stürzen sich alle gerne auf den größten Kuchen. Aber das geschieht doch in einem etwas anderen Orbit, als in dem, in dem wir uns bewegen. Online games, mobile games etc. sind klassisches Agenturgeschäft.
Der Hintergrund ist: es sind inzwischen enorme mobile Übertragungsraten da, kleine Geräte mit großer Rechenpower sind verfügbar und alles fragt nach Inhalten – für vergleichsweise kleine Bildschirme. Und neben dem mobilen Internet, was nicht so simpel ist, wie es immer verkauft wird, sind es Spiele, die zumindest teilweise Wegbereiter sind für die zukünftigen Nutzungsarten mobiler Geräte. Spielformen eignen sich offenbar gut zum Ausprobieren neuer Technologien.
Aber ich glaube in der Tat, dass der Trend vor allem in der Diversifizierung des (Spiele-)Marktes liegt. Es wird weiter mobile Spiele, Sportgames, Shooter, Strategie- und Simulationsspiele und die vielen anderen Genres und so weiter geben. Menschen werden immer spielen und da der Computer nicht mehr wegzudenken ist, werden sie auch weiter und sogar noch mehr mit dem Computer spielen.
Aber es wird sich eben auch ein künstlerisch und thematisch anspruchsvollerer Teilmarkt etablieren, der sich auch auf andere und neue Lebensbereiche konzentrieren wird.

Wie zum Beispiel auf das Lernen.

TW   Genau. Die Stichworte sind hier wohl Ausbildung, Weiterbildung und lebenslanges Lernen. Narrative Spiele zu ernsten Themen werden davon ein Teil sein. Einfach deshalb, weil diese Spiele durchdacht sind und funktionieren – ästhetisch, inhaltlich und vor allem von Seiten der Nachfrage. Über die Nutzergruppen haben wir ja schon gesprochen. Die werden sich aber auch verändern. Neue Spieler kommen hinzu. Will, wer heute noch Shooter spielt, das auch in 15 Jahren noch tun? Oder spielt so jemand dann gar nicht mehr? Was werden die heute noch jungen Spieler in der Zukunft spielen wollen, wenn sie erwachsen sind? Wo sind die Spiele für Frauen, wo sind jene für alte Menschen? Schon heute gibt es in den USA viele Eltern, die mit ihren Kindern gezielt Computerspiele spielen und sie ihnen wiederum genau in dem Alter verbieten, in dem die Kinder das Interesse an gewalttätigen Spielen entwickeln könnten. Das sagt als Trend doch viel mehr aus, als der Boom der mobile games. Narrative, lehrreiche und dennoch unterhaltsame Spiele werden genau an jener Stelle gebraucht.

SW   Und es kommt ja noch etwas hinzu: bislang ist noch nie ein Budget für ein derartiges Spiel angelegt worden, das ansatzweise mit einer der großen Ego-Shooter- oder Kriegsspielproduktionen vergleichbar gewesen wäre. In Bezug auf narrative Spiele, sprechen wir hier nach wie vor von einer sehr kleinen Nische, in der es den großangelegten Versuch  noch nicht gegeben hat, das Budget überwiegend in die Story, in handgearbeitete Grafik und in schlüssig verarbeitete Inhalte zu stecken, statt in Effekte, Marketing, Engine und hunderte von Levels, Massive Multiplayer Versionen und dergleichen mehr.

Dienen Storytelling Games also der Entschleunigung?

SW   Verstehen wir sie einen Moment mal als das, was die Literaturverfilmung im Kino ist. Es ist gerade ein wichtiger Vorteil dieser Spiele, dass man an sie von vorneherein mit der Vorstellung herangehen kann, dass man sie nicht mal eben durchspielt. Dass man also eine gewisse Ruhe und Konzentration mitbringen muss, mal zuhören und nachdenken muss. Das Publikum kann damit rechnen, dass es Herausforderungen zu bewältigen geben wird und dass man vielleicht Geduld braucht, um zu einem Ergebnis zu kommen. Unsere Storytelling Games sind nicht schnell. Damit setzen sie sich schon heute sehr ab. Und dann ist da auch noch der Punkt des ernsten Themas. Menschen lieben es, wenn ihnen komplizierte Sachverhalte einfach nahegebracht werden. Insoweit können Storytelling Games zu Bindegliedern zwischen den Erkenntnissen der Wissenschaften einerseits und dem Publikum andererseits werden.

Brauchen unsere Gesellschaften nicht eher geeignete Spiele für bildungsferne Schichten, statt hochwertige Spiele für eine Elite?

TW   Ich denke, wir brauchen einfach beides. Storytelling Games können auf sehr elegante Weise Kinder aller gesellschaftlichen Gruppen erreichen, bevor sie, durch welche Entscheidung auch immer, und aus welcher Motivation heraus auch immer, in getrennte Schulsysteme kommen. Storytelling Games eignen sich sehr gut, alle Gruppen sozusagen mit einer ähnlichen Grundlage auszustatten. Und wenn ich an so manche Hauptschule denke, stelle ich mir vor, dass man so manchem Lehrer vermutlich einen großen Gefallen täte, wenn er oder sie für die fünfte/sechste Klasse narrative Computerspiele mit Anspruch zur Verfügung hätte. Was also bildungsfernere Gruppen angeht, so denke ich ist das Verführungspotential des Mediums Computerspiel an sich ein wichtiges Leitmotiv.
Was auf der anderen Seite die Elitenbildung angeht, so sind die Eigenschaften der Interdisziplinarität und des Anspruchs innerhalb von Computerspielen wohl entscheidend für Eltern und Lehrer.

Jenseits interdisziplinärer Themenbereiche könnten sich Storytelling Games aber auch für die eigentliche „education“, die Erziehung eignen.

SW   Das ist sogar eines unserer wichtigsten Anliegen. Bislang hat sich uns nur noch nicht die richtige Gelegenheit geboten, ein solches Spiel einmal anzudenken oder zu konzipieren. Viele Eltern können heute die eigentlich verantwortungsvolle Aufgabe der Erziehung kaum mehr selbst erfüllen. Die einen, weil sie gleich mehrere Jobs haben, die anderen, weil ihnen das Erziehungswissen fehlt und wieder andere, weil es Ihnen an dem Bewusstsein für die Wichtigkeit dieses Themas mangelt. Aber wäre es nicht sehr spannend ein Spiel zu machen, dass sich mit Fragen des guten Benehmens, der Höflichkeit und Freundlichkeit beschäftigt, ein Spiel über Manieren? Alles fängt doch an mit der Art, wie wir miteinander umgehen. Wenn man die Grundlagen dafür irgendwo zwischen dem sechsten und dem 14. Lebensjahr legte, wäre viel gewonnen - gerade auch in Hinblick auf Gewaltvermeidung und Konfliktlösungsstrategien.

Welche Altersgruppe ist Ihnen besonders wichtig?

TW   Sowohl was Inhalte, wie auch die Ästhetik angeht, so hat jede Altersgruppe irgendeinen Vorzug. Ist es bei den Kleinsten das mögliche Maß an Phantasie, ist es bei den Ältesten die denkbare Komplexität der Rätsel und Aufgaben. Man muss sich als Entwickler natürlich auch klar darüber sein, dass es heute sehr schwer geworden ist, durchschnittliche 16- oder 18-Jährige noch mit irgendetwas zu begeistern. Sobald es um Absatzzahlen geht, muss man sich darüber klar sein, dass diese Altersgruppe alles gesehen hat und sehr verwöhnt ist, was die Effekte angeht.

Da wir insbesondere im Bereich der 2D-Grafik-Point-and-Click-Adventures arbeiten, wird es also in dieser Altersgruppe auf absehbare Zeit bei einer eingeschworenen Fangemeinde bleiben. Aber andererseits ist das Point-and-Click-Adventure-Genre auch gerade wieder im Kommen. Es käme also auf einen Versuch an, junge Erwachsene mit einem solchen Spiel anzusprechen.

Aber grundsätzlich muss ich sagen, finde ich die Altergruppe der 8-14 Jährigen, und innerhalb dieser den Kernbereich der 8-12-Jährigen sehr interessant. Einerseits ist noch genügend Kindliches vorhanden und andererseits schon sehr viel Verstand und teilweise sogar politisches Verständnis. In diesen Jahren kann man inhaltlich bei den Kindern unglaublich viel bewirken – oder kaputt machen. Interessanterweise ist das auch die Altersgruppe, für die das Angebot zahlenmäßig sehr gering und nicht sehr divers ist.

Was meinen Sie woran das liegt?

TW   Ich denke, der Markt setzt da ganz einfach auf die Verführbarkeit. Ein normaler 10- bis 12-Jähriger wird sich durch für ihn möglicherweise nicht geeignete Computerspiele, die besser erst 18 Jährige spielen sollten (wenn überhaupt) naturgemäß angezogen fühlen. Andererseits ist es kostenaufwändig und kompliziert, Spiele zu erfinden, die zwar einerseits der kindlichen Seite eines 12-Jährigen entsprechen, andererseits aber auch seinen Intellekt nicht unterfordern. Auf diese Kerngruppe der noch ganz gut erzieh- und beeinflussbaren, aber eigentlich doch schon sehr cleveren 10-12-Jährigen zielen unsere Storytelling Games besonders ab. Wie gesagt, in diesem Alter kann man, wenn man will, sehr viel Gutes bewirken. Und darum geht es ja letztlich – diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Es gibt immer mehr Leute, die Zielgruppenspezifikationen für weniger wichtig halten. Wie sehen Sie das?

TW   Ich frage mich manchmal, wie sähe die Welt eigentlich aussähe, wenn jeder Autor und jeder Maler in den vergangenen sagen wir 800 Jahren erst einmal eine Markt- und Zielgruppenanalyse gemacht hätte, bevor er sich an das Schreiben oder Malen begeben hätte …

SW   Zielgruppen verändern sich heute extrem schnell und ändern auch ihre Neigungen - teilweise innerhalb von sehr kurzer Zeit …

TW   … Sorry. Abgesehen davon diversifizieren sie sich auch soziologisch zunehmend und werden immer schwerer fassbar. Für manche ein Ärgernis …

SW   Für eine Spieleentwicklung, die ja teilweise Jahre in Anspruch nehmen kann, ist diese Frage also schwer zu beantworten.  Für unsere Storytelling Games sind Alters- und Zielgruppen nur bedingt von Wichtigkeit.
Aber dennoch: in unseren Spielen sollten Rätsel zum Beispiel nicht so schwierig sein, dass ein 10-Jähriger die Lust verliert und das Spiel weglegt. Aber das kann auch bei einem 40-Jährigen passieren, wenn er die Lösung nicht herausbekommt. Jungen Erwachsenen Männern wäre es im statistischen Mittel relativ egal, wenn sie mit ihrem Charakter ein und dieselbe Strecke 15 Mal ablaufen müssten, um ein Ziel zu erreichen. Fast allen Kindern, Frauen oder anspruchvolleren Erwachsenen würde das eher nicht gefallen. Dieses Beispiel illustriert, was beim Storytelling bezüglich der Zielgruppen wichtig ist; auf die erhofften Nutzergruppen abgestimmtest Puzzledesign, also die Rätselgestaltung.

TW   Aber was gute Geschichten anbetrifft so spielt das Alter nicht wirklich eine übergeordnete Rolle. Wenn die Charaktere und das, was mit ihnen geschieht, wie sie sich entwickeln usw. glaubwürdig ist, dann mögen Menschen unterschiedlichsten Alters und verschiedenster Hintergründe diese Geschichten.Gerade darin sehe ich einen großen Vorteil unserer Spiele, die ja selbst wenn sie für Kinder sind, recht ernsthaft daherkommen. Auf diese Weise ist es vielleicht eher eine Charakter- als eine Alterfrage, ob man die Figuren und die Geschichten unserer Spiele – und das, was man vielleicht daraus mitnehmen kann - mag oder nicht.

Seit Jahren wird gerade in Deutschland von der sogenannten Wissensgesellschaft gesprochen. Wo sehen Sie da den möglichen Ort der „Storytelling Games“?

SW   Ich denke da bedarf es dingend einer Erklärung, was die Teilnehmer an dieser Debatte eigentlich unter einer Wissensgesellschaft verstehen …

TW   Die Themen, denen sich CAGATTI widmet, sind nicht umsonst global angelegt. Gleich, ob es um Biodiversität, Rassismus, Globale Erwärmung, interkulturelle Verständigung, die Rolle Afrikas in der Welt, die Ressourcen der  Zukunft oder um Antisemitismus geht. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Zukunft der Menschheit als ganzer auch nur global gedacht werden kann. Zwar verhindern aus der Vergangenheit überkommene nationalstaatliche Strukturen heute noch mit enormen Reibungsverlusten auf allen Ebenen, dass eine „good leadership“ international entstehen kann, um globale und gerechtere Denkweisen zu etablieren, um dazu passende Politik- und Handlungsstrukturen für die Zukunft zu entwerfen. Das aber ist eine Frage der Zeit. Was es dafür aber dringend braucht, denken wir, sind Menschen, die dann bereit sind, dienende Führung zu übernehmen – und das ist eine Frage des Wissens: Kinder und junge Menschen, die mit einer selbstverständlichen Offenheit, einem natürlichen Weltbürgertum sozusagen aufgewachsen sind, sodass ihnen die Komplexität der Welt immer vor Augen steht.

SW   Wo wir hinkommen müssen, ist doch, dass Fachleute, Naturwissenschaftler, Geisteswissenschaftler lernen müssen, sich einfacher, bildhafter, sprechender, motivierender auszudrücken. Die akademische Welt muss ihr Wissen effektiver verteilen. Dazu gehört auch der Mut zum Risiko der Vereinfachung. Das kann nur auf eine Art geschehen. Und zwar auf eine Art, die all jene Aspekte einbezieht, die für die Menschen von Bedeutung sein werden, wenn Fachwissen Anwendung findet. Spätestens dann, wird reines Faktenwissen in seiner Bedeutung emotional.

… und da kommen Games ins Spiel …

TW   Genau. Wir brauchen mehr Menschen, die dieses Fachwissen umwandeln und verteilbar machen, herunterbrechen, damit Menschen sich überall auf der Welt eine Meinung bilden können. Letztendlich reden wir hier teilweise über die Frage nach der Zukunft von Teilhabe an einer (noch nationalen) globalen Gesellschaft.
Die Notwendigkeit einer Strategienfindung für die schnellere und kompaktere Verteilung neu gewonnenen Wissens und als bedeutend eingeschätzter Wissenszusammenhänge, kann nicht bestritten werden. Unsere Lernsysteme für die Masse setzen heute noch und nach wie vor zu stark auf ein Idealbild des Lernens, das aus dem 19. Jahrhundert stammt: "durch Industrialisierung und wissenschaftliche Systematisierung und Spezialisierung lässt sich die Welt begreifen und anschließend beherrschen". Aber darüber sprachen wir ja schon.
Wir sind hingegen davon überzeugt, dass die Elemente Geschichte, Ästhetik und Spiel in einer sinnvollen Kombination (wie den Storytelling Games) einen großen Beitrag leisten können zu der Verteilung von Wissen und komplexen Zusammenhängen von oben nach unten. Dass dies notwendig ist, zeigt alleine schon der Graben, der in allen Industrienationen entstanden ist zwischen wegbrechenden Industriesozialstrukturen „unten“ und der „Wissensgesellschaft“ oben. Geschichtenbasiertes Lernen stellt einen guten und  geradezu pragmatischen Weg der Wissensvermittlung gleich auf mehreren Ebenen dar, überall dort wo es um komplexe Zusammenhänge, Interdependenzen, divers motivierte Interaktionen von Menschen, Folgeneinschätzungen, emotionale, historische und kulturelle Bewertungszusammenhänge und dergleichen geht.

Würde man da nicht auf Widerstand stoßen?

TW   Ja klar! Aber es ist doch so: das unangefochtene Image des traditionell vermittelten Faktenwissens muss sich doch messen lassen an seinem Erfolg. Hat traditionell erworbenes Wissen wirklich einen Geschwindigkeitsvorteil für den Lernenden? Ist es nicht vielmehr so, dass diese Form der Wissensvermittlung vor allem der Strukturierung der Arbeitszeiten des Lehrenden entgegenkommen? Sozusagen der Verwaltung des Lehrens?

Was ist mit dem Ergebnis des Erlernten? Wie nachhaltig abrufbar ist Faktenwissen? Ich habe da große Zweifel.

SW   Umgekehrt kann man in der Zerstückelung des Wissens durch die heute Tradition gewordenen Wege der Wissensvermittlung sogar eine Mitverantwortung für viele Probleme sehen, denen wir heute ausgesetzt sind. Mangelnder Praxisbezug auf der einen Seite, geradezu absurder Pragmatismus auf der anderen Seite. Dazwischen tut sich ein ganzes Universum der  Vereinfachungen auf.

TW   Wenn ein Mensch lernt, seine Umgebung, die Phänomene der ihn umgebenden Welt als Aneinanderreihung von Fakten zu begreifen, die durch einzelne Ursache-Wirkungs-Ketten miteinander verbunden sind, so wird er entsprechende Lösungswege vorschlagen. Je komplexer ein Mensch jedoch gelernt hat zu denken, umso vielschichtiger werden seine Problemlösungsvorschläge sein – und das bedeutet nicht unbedingt, dass sie undurchführbar oder unpragmatisch sein müssen, sie denken nur vielleicht mehrdimensional bereits mögliche Folgen oder Auswirkungen – auch Synergien übrigens - mit.

Womit wir wieder bei der Interdisziplinarität wären …

SW   Genau. Aber man muss sich halt gegenseitig auch wirklich zuhören. In den letzten Jahren nimmt doch die Neigung zur Interdisziplinarität überall spürbar zu. Wissenschaftler studieren die erfolgreichsten Zeiten der Wissenschaftsgeschichte und bemerken dabei, dass die Besten immer schon eine Neigung dazu hatten, grundsätzlich neugierig zu sein. Es ist für mich durchaus denkbar, dass ein Atomphysiker oder Jurist von den Kreativitätstechniken oder Problemlösungsstrategien eines Modedesigners lernen und sich inspirieren lassen kann. Sie werden sich nur realiter vermutlich selten lange genug zuhören, wenn es nicht gerade um das Urheberrecht geht.

TW   Ich muss noch mal auf etwas zurückkommen: selbstverständlich geht es hier nicht um die Frage eines direkt nobelpreisverwertbaren Ergebnisses. Vielmehr ist doch umgekehrt die Frage, ob das Verstehen der Welt, der Menschen und ihrer Motivationen wirklich erlernbar ist über die überwiegend voneinander getrennt stattfindende Wissensvermittlung in Form von Fächern und Disziplinen. Unsere überwiegend technizistische Sicht auf die Dinge bedarf dringend einer Renaissance, einer Wiederbesinnung auf das Wesentliche. Wie in der Politik, oder der Architektur, oder noch absurder in der Kunst, überall muss der Mensch als Ganzes wieder in das Zentrum unseres Wertesystems zurücktreten, aus dem er sich im Laufe des 20igsten Jahrhunderts verabschiedet hat.

SW   Ich bin davon auch überzeugt - und: Interdisziplinarität ist durch das Storytelling schneller, effektiver und nachhaltiger zu erreichen. Stories bieten aufgrund ihrer Vielschichtigkeit, die alleine durch die Vielzahl an handelnden Charakteren sich ergibt, viel mehr Anknüpfungspunkte zum anscheinenden „Abschweifen“. Auf diese Weise sind Zusammenhänge zu Nachbardisziplinen oder weniger wichtigen Teilaspekten eines Themas sehr leicht zu implementieren, wohingegen ein faktenorientierter Mathematikunterricht schon vollkommen neu aufgebaut sein müsste, wenn man die historischen Aspekte einer mathematischen Entdeckung gleich mitliefern wollte.

Je weniger starr, also je offener ein Lehr- und Lernsystem ist , desto eher wäre das, was Sie sagen erreichbar.

TW   Das Konzept des Storytellings ist sehr offen. Grundsätzlich ist es möglich, sich nahezu jedem Thema mit einer einer Geschichte zu nähern, sofern diese bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt. Egal ob fiktional oder eher der Realität – oder Lebenswirklichkeit – zuzuordnen, gerade mit Hilfe des Geschichtenerzählens kann man sich nahezu jedem Denkgegenstand nähern und ihn quasi virtuell in seinen Strukturen oder Auswirkungen erproben. Darüber sprachen wir ja schon.

Lassen Sie uns mal gemeinsam in die Zukunft sehen: nach diesem langen Gespräch würde ich gerne einfach mal miterleben, wie Sie eigentlich auf Ideen kommen. Meinen Sie das klappt? Einfach so?

TW   Gute Frage. Keine Ahnung. Also mal sehen. Storytelling, wie wir es verstehen ermöglicht es, noch nicht Erfundenes einfach als gegeben hinzustellen. Der Klassiker wäre hier zum Beispiel die Zeitreise oder das Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit.
Aber nehmen wir doch gleich mal etwas Praktischeres, das in den nächsten Jahrzehnten geschehen könnte: stellen Sie sich eine Zukunfts-Story vor, die vor der Hintergrundfolie eines erfolgreichen Terraformings auf dem Mars spielen würde. Das gäbe uns die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie die Erde sich in der Zwischenzeit verändert hätte. Kann man dort noch leben oder haben wir inzwischen alles zugrunde gerichtet? Hat vielleicht eine kleine privilegierte Zahl von Menschen erfolgreich Zuflucht auf dem Mars gefunden? Was wäre mit den anderen Menschen? Umweltaspekte, Astrophysik, Weltraumtechnologie, Geologie, Evolution und Ökologie und viele Aspekte mehr  würden in ein solches narratives Spiel einfließen.

SW   Und: Zukunft, Mars, Science Fiction, Raumschiffe –  das würde gewiss eine Vielzahl von Jungs ansprechen, und, um im Klischee zu bleiben, der Naturaspekt würde andererseits eine Vielzahl von Mädchen interessieren. Dieses Beispiel illustriert gut, dass man für ein solches Spiel ein singuläres Lernziel schon nicht mehr definieren könnte. Aus der Sicht manches Pädagogen wahrscheinlich ein Alptraum.

Mit einem Science Fiction Thema würde man klassischen Pädagogen die Breitseite aber auch geradezu anbieten …

TW   Ok. Man könnte auch bestimmte historische Problemlagen um eines bestimmten Zieles willen aus leicht veränderter oder noch nie gesehener Perspektive zu erzählen versuchen. Stellen wir uns ein Spiel vor, das in den USA um die 1870iger Jahre spielt. Ein junger Häuptlingssohn aus dem Westen nimmt nach dem Bürgerkrieg die lange Reise in Richtung Osten auf sich und begibt sich nach New York, Bosten, Philadelphia, Washington. Er kommt in gute Kreise der Gesellschaft und erlebt die Industrialisierung, den Wiederaufbau und die sich gerade entwickelnde Weltmacht hautnah mit. Ein heißes Eisen – aber spannend.

Das wäre in jeder Hinsicht auch eine phantastische Herausforderung.

TW   Ja, und wesentliche Fragen, die die Grundfesten der Vereinigten Staaten, ja der westlichen Welt beträfen, könnte man thematisieren. Das Verhältnis zwischen Nord- und Südstaaten, Stadt und Land. Die vielfältigen Versionen von Rassismus und kultureller Arroganz auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Aber auch die spannende Welt der frühen Industrialisierung. Stellen Sie sich diese unglaubliche Dynamik vor, der man damals an der Ostküste begegnet sein muss. Man könnte so ein Thema auch gut verschneiden mit Einwanderergeschichten aus Europa. Da treffen viele Nöte aufeinander. Unter dem Gesichtpunkt des Nationbuildings oder des "Nation-Re-Buildings" bekommt ein solches Spiel eine enorm zeitgemäße Relevanz. Und noch mehr in Bezug auf die Frage: wer wollen wir werden und wie wollen wir zusammen leben …

Vielen Dank für das Gespräch.

 

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